Wo ist das „Ich“ im „Wir“?

Juni 2024. Vor fünf Monaten wurde der Abschlussbericht der ForuM-Studie veröffentlicht.

Unter dem Titel „Sexualisierte Gewalt im Raum der Kirche und der Diakonie: Werkstatt Aufarbeitung“ hat die Akademie Loccum vom 12.-14. April 24 zur Tagung eingeladen. Einen Überblick gibt dieser Artikel vom Eule Magazin. Ich habe mich sehr kurzfristig angemeldet und bin deshalb ohne konkrete Erwartungen angereist. Ich wollte zuhören und lernen. Am Wochenende ging es vor allem um die institutionelle Aufarbeitung. 

Bei der Tagung und auch durch Podcasts und Artikel der letzten Monate hat sich meine Wahrnehmung von Betroffenen verändert. Betroffene sind keine homogene Gruppe. Ich war immer wieder beeindruckt von der Klarheit, mit der Betroffene auf den Podien ihre Forderungen und ihre Perspektive eingetragen haben. Davon, wie viele von ihnen so viel sprachfähiger zu diesem Thema sind als andere in der Kirche und das trotz oder vermutlich gerade wegen ihrer Erfahrungen. Viele von ihnen stehen heute der Kirche mindestens distanziert gegenüber und trotzdem engagieren sie sich in diesem Prozess, der immer auch neue Verletzungen bedeuten kann. Und irgendwie kommen mir diese Sätze banal vor, wenn ich sie aufschreibe und trotzdem ist theoretisches Wissen und eine wirkliche innere Erkenntnis nicht immer das gleiche. Und ich musste mir das am Wochenende selber eingestehen, dass wir und auch dass ich in der Vergangenheit Betroffene in eine Schublade gesteckt habe, auf ihre Erfahrung, auf ihr Leid reduziert habe. Natürlich tragen Sie diese Erfahrung ein, aber ich will sie vor allem auch als Expertise und unglaublich wichtige Perspektive in diesem Prozess wahrnehmen. Ich merke bei mir selbst immer wieder das Bedürfnis, den Betroffenen zu danken, die sich in die Prozesse einbringen. Und ich will nicht bei diesem Gefühl von Erschrockenheit stehen bleiben, wenn ich ihre Geschichten höre. Ich glaube dann werde ich dieser Verantwortung nicht gerecht. Sie erzählen uns nicht davon, um Mitleid zu bekommen, sondern um endlich etwas zu verändern. Wenn sie auf einem Podium erzählen, dann geht es nicht in erster Linie um ihre persönliche Aufarbeitung – die findet oder fand ziemlich sicher in anderem Rahmen statt. Deshalb will ich nicht nur immer „danke“ sagen, sondern auch über Konsequenzen für mein Denken und Handeln nachdenken. (Und oh wie wünsche ich mir, dass auch Kirchenleitungen so mit diesen Geschichten umgehen…)

Detlef Zander sagte dazu: „Wir haben euch unsere Geschichten gegeben. Macht was draus.”

und ich möchte ergänzen: Sie haben uns (an diesem Wochenende) noch viel mehr als Geschichten gegeben. Und gleichzeitig wurde immer wieder betont, dass es nicht die guten oder wichtigeren Betroffenen gibt und „die anderen“. Dass es keine Hierarchie zwischen Betroffenen geben darf, zwischen denen, die sich als Sprecher*innen beispielsweise und auf Podien engagieren und denen, die das nicht tun, nicht können oder nicht wollen. Auch ihre Stimmen sind wichtig.

„Wir haben festgestellt: Das Böse ist mitten unter uns!“

Ach herrje. Dieser Satz, der ebenfalls am Wochenende auf der Tagung fiel, lässt mich nicht los. Ob es als tiefgreifende theologische Erkenntnis gedacht war oder einfach spontan ausgesprochen – ich weiß es nicht. Für mich steckt in diesem Satz erneut eine Distanzierung: „das Böse“ auf der einen Seite – wir auf der anderen. Damit wird es auch eine Distanzierung von Schuld und Mitverantwortung. Wir waren´s nicht, das Böse kam irgendwie von außen, es gehört nicht zu uns.

Zu einer neuen Wahrnehmung gehört auch, die Größe der Gruppe Betroffener zu realisieren. Wir können nicht länger von „Einzelfällen“ sprechen – einerseits weil es zu viele sind, andererseits weil wir spätestens durch die ForuM-Studie gelernt haben, dass hinter der Gewalt ein System, eine Struktur steht, die diese begünstigt und vertuscht hat. „Wir alle kennen Betroffene“ – ob wir es wissen oder nicht. Das wird in diesen Tagen immer wieder betont. Und vielleicht sollten wir anfangen im gleichen Moment auch zuzugeben: Wir alle kennen Täter*innen und Tatkontexte und jene, die zur Vertuschung beigetragen haben.

Die Sache mit der Harmonie

Die Studie hat uns gezeigt: Wir haben in der Kirche ein großes Bedürfnis nach Harmonie. Das klingt erst einmal schön: Harmonie klingt nach Wohlfühl-Ort, Gemeinschaft, Augenhöhe, Frieden, Sicherheit. Gemeint ist jedoch dies: Probleme unter den Tisch kehren, Diskussionen vermeiden, Vertuschung und Diskreditierung von denen, die Vorfälle öffentlich machen und thematisieren. Es passiert eine Täter*innen/Opfer-Umkehr. Diejenigen, die Missbrauch und Gewalt und Diskriminierung in Kirche ansprechen, werden zu „Nestbeschmutzer*innen“, sie schaden dem guten Ruf der Kirche oder ihnen wird vorgeworfen, nicht vergeben zu können. Wenn wir von Betroffenen Vergebung fordern, ohne uns zuvor um eine wirklich ehrliche und tiefgreifende Aufarbeitung, Prävention und Intervention zu kümmern, wie ausgehölt und leer wird dann der Begriff der Vergebung? Was bleibt von ihm übrig (auch theologisch) wenn wir aus ihm ein „Lass es einfach gut sein“ machen?

„Wir“ sagen ist leichter als „Ich“

Ich höre und lese immer wieder vom Kulturwandel und der „gemeinsamen Verantwortung“. Ja, wir brauchen strukturelle Veränderungen UND einen Kulturwandel. Wir brauchen beides. Und ja, einen Kulturwandel kann keine Person, kein Amt, kein Gremium beschließen oder anordnen. Er kann auch nicht von Einzelnen vollzogen werden, sondern muss alle Ebenen durchdringen. Was ich aber auch wahrnehme ist, dass diese Tatsache eine hervorragende Ausrede liefert, um sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen. „Verantwortungsdiffusion“ nennt das die Studie und die Reaktionen auf eben diese bestätigen die Ergebnisse auf erschreckende Weise. Wenn Personen der obersten Kirchenleitung nun immer wieder das „wir“ betonen, ohne auch nur ein einziges Mal „ich“ zu sagen und eigene Konsequenzen zu ziehen, wie glaubhaft soll dieser Kulturwandel dann sein? Wann reflektieren wir endlich Machtstrukturen in unserer Evangelischen Kirche? Wir sind so stolz auf unsere demokratischen Strukturen, ich auch. Aber das heißt doch nicht, automatisch, dass Macht gleich verteilt ist, dass es keine Gefälle, keinen Machtmissbrauch gibt. Ja manchmal hat es den Anschein, manche leugnen schon die bloße Existenz von Macht. Ja, ein*e Bischöf*in kann nicht allein die Kirchengesetze ändern oder einen Kulturwandel beschließen. Natürlich nicht. Aber wir können doch nicht leugnen, welche Wirksamkeit dieses Amt hat, welche Bedeutung und Wirkung und Reichweite diese Menschen in ihrer Kirche inne haben. Wir können wir auf der einen Seite sagen „Es kommt auf jede*n einzelne*n von uns an.“ und im nächsten Satz die Bedeutung des Engagements einer so mächtigen Leitungsperson kleinreden? Lieber Herr Bischof, da ist ein „ich“ in „wir“.

Kirche als Safe Space – für alle

Über sexualisierte Gewalt und Missbrauch und Diskriminierung in unseren Kirchen zu sprechen, ist schmerzhaft – für diejenigen, die sie selbst erlebt haben, und für diejenigen, für die Kirche ein sicherer Ort gewesen ist und die sich nun eine neue und eigentlich immer da gewesene Wahrheit eingestehen müssen. Ein Satz der mir auf der Tagung und in mancher Pressekonferenz besonders im Kopf blieb, klang etwa wie folgt:

„Uns ist die Leichtigkeit (in der Jugendarbeit) verloren gegangen.“

Ich frage mich, von welcher Leichtigkeit hier gesprochen wird. Es war eine Leichtigkeit, in der Kinder und Erwachsene unsägliches Leid erfahren haben IN unseren Kirchen und Gemeinden. Es hat diese Leichtigkeit nie gegeben – nicht für alle. In unserem Selbstbild ist Kirche oft ein vollkommener Ort, an dem alle willkommen sind. In der Realität wird sie diesem Anspruch nicht gerecht. Das Problem entsteht nicht in dem Moment, in dem wir uns endlich dieser Realität stellen, wenn wir endlich Missstände aufdecken und angehen. Es entstand in dem Moment der Gewalt durch die Täter*innen. Es ist Teil unserer Verantwortung, jetzt damit und mit allen Konsequenzen umzugehen. Ein „Imageproblem“ darf niemals über das Leid der Betroffenen gestellt werden. Dann setzen wir den Kreislauf des Schweigens fort, der uns hier her gebracht hat.

Ich habe Kirche an vielen Orten als safe space erlebt und es ist schmerzhaft, zu erkennen, dass sie es für andere nicht war uns ist. Ich habe Kirche auch als keinen sicheren Ort erleben müssen, z.B. durch Diskriminierung. Die Missstände betreffen uns alle und doch gibt es Menschen, die ein höheres Risiko tragen als andere. Auch hier geht es wieder um Machtverteilung und Privilegien bzw. Diskriminierung. Frauen mit Behinderung z.B. sind weit überdurchschnittlich von Gewalt betroffen. Auch diese Aspekte sind in der Aufarbeitung zu beachten. Sind unsere Beteiligungs- und Meldeverfahren z.B. barrierefrei zugänglich?

Ich weiß, wie schwer es ist, solche Situationen und Strukturen anzusprechen, wie verletzbar es macht. Und ich hoffe immer wieder, dass es das eines Tages wert sein wird.

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