Es ist wie so oft: Ein Thema, das so wichtig ist, bei dem mir klar ist, dass wir darüber sprechen müssen – und nicht nur sprechen! – und in mir die Frage: Habe ich selbst etwas dazu zu sagen? Weiß ich genug? Ist meine Perspektive relevant? Einerseits will ich lieber die Texte, Podcasts, Interviews der Menschen teilen, die direkt betroffen sind und die Expertise haben. Andererseits kommt es mir auch wie der einfache Weg vor: eine kurze Story statt eigener Auseinandersetzung und Reflexion? Was ich sicher weiß ist, das mir Schreiben beim Denken hilft. Und dass mir Texte von anderen helfen, auch wenn die Gedanken noch nicht bis ganz zuende gedacht sind.
Im Kontext von Diskriminierung nehme ich immer mehr Menschen war, die eigene Erfahrungen teilen und öffentlich machen und das ist so wichtig und hilfreich. Gleichzeitig sprechen nur wenige darüber, wo sie selbst Teil der diskriminierenden Struktur sind – wir wissen warum. Ich nehme mich selbst nicht aus. Ich kenne die Scham, die Abwehrmechanismen auch bei mir (und das sind nur die, die mir bewusst sind). Ich versuche deshalb zB mit Freund*innen mehr über Situationen zu sprechen, in denen ich selbst diskriminiert habe. Und es ist schwer. Es ist mir peinlich, aber es hilft. Öffentlich ist das nochmal eine ganz andere Nummer. Hier haben auch Rollen eine größere Relevanz. Spreche ich von einer Situation, in der ich diskriminiert habe ist es anders, als wenn es eine Bischöf*in tut – das ist mir bewusst.
Nun ist gerade die Forum-Studie erschienen und in mir sind wieder all diese Gedanken: Ich weiß nicht genug, um etwas zu sagen. Andere haben schon kluge Sachen gesagt, die kann ich teilen. Ich speicher das PDF mit den Studienergebnissen unter „später lesen“. Ich weiß es ist wichtig. Und ich weiß auch, wie leicht es trotzdem ist, wegzuschauen. Dass ich wegschauen könnte, ist mein Privileg, dass Betroffene nicht haben. Und gerade deshalb will ich doch etwas schreiben. Nicht als große Analyse, als Expertinnenmeinung, sondern als persönliche Reflexion. Schreiben hilft. Und sich der Angst zu stellen, etwas falsches zu sagen, zu Recht korrigiert und kritisiert zu werden, ist vielleicht das was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Detlef Zander sagte in der aktuellen Stachel-und-Herz-Podcastfolge: „Werdet sprachfähig. Wenn ich nicht sprachfähig bin, bin ich nicht handlungsfähig.“ und „Wenn nicht darüber gesprochen wird, unterstützt man die Täter.“ Deshalb will ich versuchen für meine Reflexion Worte zu finden.
Zwischen Erschrockenheit, Trauer und Scham
Wir lesen in den letzten Tagen viel von Erschrockenheit. Bei manchen Erschrockenheit über die Zahlen und Studienergebnisse, bei manchen Erschrockenheit über die Erschrockenheit der anderen. Ich bin erschrocken darüber, wie gut die Abwehrmechanismen in mir all die Jahre funktioniert haben. Einerseits war das Thema Missbrauch, sexualisierte Gewalt und Machtstrukturen durchaus immer wieder präsent. Andererseit kam ich offensichtlich nie darauf, Konsequenzen für mein eigenes Arbeits- und Ehrenamtsumfeld zu hinterfragen, geschweigedenn einzufordern und anzugehen. Ich habe nie ein Führungszeugnis abgegeben oder eine Präventionsschulung besucht. Als wir Ende 2023 auf der Arbeit begannen, ein Schutzkonzept für unsere Arbeit zu entwickeln, wurde mir erst bewusst, dass wir bis dahin keines hatten. Es war mir nie aufgefallen. Darüber bin ich erschrocken. Egal wie viel ich über das Thema wusste, es war doch so weit weg. Es war leicht es in die Ferne zu schieben. Missbrauch gibt es, aber doch nicht bei uns? Hier würde das doch niemand… Ich lag falsch. Ich lag definitiv falsch. Nur weil mir in meinem Umfeld kein Fall bekannt ist, heißt es nicht, dass es sie nicht gab und gibt oder in Zukunft geben kann. Und ich bin Teil der Struktur, die Missbrauch ermöglicht und sogar begünstigt. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft und sie kommt zu spät. Die Studie hat mir das endlich bewusst gemacht. Sarah Vecera sagte im Podcast: „Wir wollen nicht in einer Scham- und Schuldstarre verharren, sondern Verantwortung übernehmen und uns gemeinsam aus der Erschütterung helfen, um handlungsfähig zu werden.“ Ich will versuchen das Gefühl der Scham genau dafür zu nutzen: für die Veränderung, nicht gegen sie.
Ein anderes Gefühl ist die Trauer. Trauer um die Kirche, die mir so viel bedeutet und deren Fassade bröckelt. Nein, diese Ergebnisse kratzen nicht an der Fassade, die erschüttern das Fundament, sie zeigen die tiefen Risse. Um Oberfläche geht es hier nicht. Zu akzeptieren, dass eine Kirche, in der ich mich als Kind und Jugendliche so sicher fühlen durfte, nicht für alle Menschen so ein sicherer Ort war und ist, tut unglaublich weh. Ich will dieses Gefühl bei mir und anderen ernstnehmen, aber ich will es nicht und unter keinen Umständen über die Gefühle, das Leid der direkt Betroffenen stellen. Wer Kirche leiten und oder mitgestalten will, muss sich dem Thema stellen, auch wenn es nicht leicht ist. Wir können nicht bei Erschrockenheit oder Trauer oder Scham stehenbleiben. Wir nehmen die Gefühle ernst und werden daraus hoffentlich sprach- und handlungsfähig.
Prioritäten
All diese Gedanken kommen mir schon während des Aufschreibens wie Floskeln vor. Wenn ich auf kirchlichen Seiten heute lese, „Uns ist Aufklärung und Transparenz seit langer Zeit ein sehr wichtiges Thema mit hoher Priorität. Wir werden auch weiter in diesem Sinne arbeiten.“, ist das eine Lüge. Die Forum-Studie hat bewiesen, dass Aufklärung nicht unsere Priorität war. Dass es kein „weiter so“ geben darf. Dass Harmonie zu oft über Gerechtigkeit stand. Ein erster Schritt muss es sein, dass wir uns das eingestehen. Wir sind in dieser Geschichte nicht die Guten.
Als behinderte Frau weiß ich, dass wir auch intersektional auf die Themen schauen müssen. Viele der Machtstrukturen und Abwehrmechanismen kenne ich aus dem Kontext von Diskriminierung. Gleichzeitig sind marginalisierte Menschen häufiger von Missbrauch betroffen.
Ich will etwas tun. Ich will lernen, offener über diese Themen zu sprechen. Ich will mehr über Prävention lernen und mich für Schutzkonzepte einsetzen – auf der Arbeit und im Ehrenamt. Wir haben damit bereits begonnen und ich habe mich für eine Schulung angemeldet. Ich weiß, dass das erst ein Anfang ist.
Ich empfehle allen sehr, sich mit den Ergebnissen der Studie auseinanderzusetzen. Hier geht es zur Zusammenfassung. Ich empfehle auch die Stachel und Herz Folge, in der Thea Hummel und Sarah Vecera mit Detlev Zander gesprochen haben, Mitglied im Beteiligungsforum der EKD und Sprecher der Betroffenenvertretung.