Wir glauben, dass Menschen einen Wert haben und von Gott geliebt sind, unabhängig von ihrer Leistung. Diese Einstellung wendet sich damit auch gegen jede Form des Ableismus. Eigentlich ganz einfach, oder?
Ableismus ist eine Form von Diskriminierung, die sich gegen Menschen mit Behinderung (MmB) oder chronischer Krankheit wendet. Beispiele sind fehlende Barrierefreiheit, diskriminierende Sprache, positive und negative Vorurteile. Ableismus hat viele Ausprägungen und ist noch deutlich unbekannter als es zB Rassismus ist.
In der Bibel finden wir sehr negative Beschreibungen von Krankheit. Häufig wurde sie mit Strafe assoziert, man distanzierte sich von Betroffenen, sie lebten isoliert oder in Abhängigkeit. Es lassen sich aber auch andere Stellen und Auslegungen entdecken. Ich denke an Mose und das schwere Sprechen oder an Jesu Wundmale. Ich denke an Heilungsgeschichten, in denen Jesus den Blinden fragt: „Was willst du, dass ich für dich tue?“ und ihn entscheiden lässt…
Ich habe vier Beispiele gesammelt von Ableismus, wie er auch in Kirche vorkommt:
„Ich bete für dich.“ Viele junge MmB, denen ich auf Instagram folge und die gar nichts mit Kirche zu tun haben, berichten von diesem Satz und von Christ*innen, die meinten, ihnen damit etwas Gutes zu tun. Ich finde es schön, für einander zu beten. Ich finde es schön wenn wir (digital) am Leben anderer Anteil nehmen, wenn Menschen eine Kerze für mich anzünden oder die Daumen drücken, wenn ich von einer schwierigen Situation erzähle. Aber: Einer fremden Person diesen Satz ungefragt und ohne Kontext zuzusprechen, einfach weil sie als Person mit Behinderung sichtbar ist, ist übergriffig. Es bedeutet: Ich nehme dein Leben als leidvoll wahr. Ich beurteile von außen, wie es dir geht und dass sich daran etwas ändern sollte. Das ist Ableismus. Und der eigentlich schöne Satz bekommt einen fiesen Beigeschmack.
„Also bisher hat das niemand gebraucht.“ Ein Satz den ich häufig höre, wenn ich zB nach Barrierefreiheit bei einer Veranstaltung frage. Und ich denke: Wieso muss ich überhaupt fragen? Wieso gibt es nicht selbstverständlich Informationen über die Zugänglichkeit von Räumen und Veranstaltungen? Wieso wohl gehe ich und gehen viele MmB häufig davon aus, dass ein Raum nicht barrierefrei ist und fragen auch gar nicht erst nach? Wieso sollte dir eine blinde Person auf Insta folgen, wenn du keine Bildbeschreibungen machst? Klingt logisch? Wieso ist es dann immer noch eine Ausrede keine zu machen, weil mir ja niemand folgt, der das braucht?
„Krass, dass du trotzdem Pastorin werden willst!“ Es ist das Trotzdem. Toll, dass du trotzdem zur Uni gehst. Wieso auch nicht? Es wäre auch gar nicht so anstrengend für mich, wenn alles zugänglicher wäre. Und wie schön wäre es, mehr MmB in unserer Kirche arbeiten zu haben. Diversität bereichert. Nachweislich. Es gibt Studien dazu, dass Unternehmen, die divers aufgestellt sind, innovativer sind und besser auf Krisen und Veränderungen reagieren können. Klingt als könnte Kirche das gut gebrauchen.
Unter dem Stichwort „inspiration porn“ wird beschrieben, dass MmB häufig für Taten bewundert werden, die alltäglich sind. Sie sind dann besonders mutig oder tapfer und stark, während sie einfach ihr Leben leben. Der Satz „Ich könnte das ja nicht!“ kommt dabei meist gleich hinterher. Dahinter steckt jedoch der Gedanke, dass MmB „normalerweise“ all diese Dinge nicht können und es diese eine Person nun eben trotz der Behinderung schafft. Eigentliche individuelle Begabungen und Erfolge geraten so wieder in den Hintergrund. Gleichzeitig wird das Ansprechen von Missständen, der Kampf mit Barrieren zur eigenen Aufgabe. Die Verantwortung wird umgekehrt: Menschen müssen mutig / tapfer / stark sein, um gegen Barrieren anzugehen und sich Teilhabe zu erkämpfen, statt dass wir danach fragen, wie alle Menschen teilhaben können ohne dafür kämpfen zu müssen. Zugänglichkeit ist nicht ihre eigene Aufgabe.
Und zum Schluss: „Sind wir nicht alle ein bisschen behindert?“ Kurz gesagt: Nein. Es ist der Versuch, von Gleichheit zu sprechen. Natürlich ist Krankheit, körperliche Grenzen etc etwas, das alle in irgendeiner Form kennen. Aber Behinderung heißt auch: behindert werden. Der Satz, das Gleichmachen verdeckt Diskriminierungserfahrungen ebenso wie der Satz „Ich sehe keine Hautfarben“ rassistische Diskriminierung versteckt. In der Literatur zu Inklusion gibt es zwei Richtungen der Angleichung: nach unten und nach oben. Die Angleichung über den Gedanken, dass alle Menschen begrenzt sind in ihrer Körperlichkeit. Und die Angleichung über den Gedanken der Gotteskindschaft, Ebenbildlichkeit. Menschliche Erfahrungen sind nicht immer gleich, nicht immer vergleichbar. Wer mal eine Erkältung hatte, weiß deshalb nicht, was es bedeutet, chronisch krank zu sein. Für mich funktioniert es nur so: Alle Menschen haben einen Wert, eine Würde, der von keiner Leistung abhängt. Sie sind geliebt. Was machen wir draus?